„Jenseits der Eilegrenze“: Nichts hat sich verändert, doch manches ist anders.

Ende August 1982 bin ich zum ersten Mal durch den nordschwedischen Padjelanta-Nationalpark gewandert. Von Kvikkjokk nach Staloluokta und weiter über Kisuris nach Ritsem. Neun Tage habe ich dafür gebraucht. Um zu meinem Auto nach Kvikkjokk zurück zu kommen, bin ich von Ritsem aus mit der (bis heute existierenden) Busverbindung in Richtung Gällivare gefahren, aber unterwegs an der Bushalte- und Schiffsanlegestelle „Kebnats“ ausgestiegen. Weil ich dadurch mit der (ebenfalls bis heute möglichen) Bootsverbindung die Fjällstation Saltoluokta am gegenüber liegenden Ufer erreichen konnte; um von da an auf einem Teilabschnitt des „Kungsleden“ nach Kvikkjokk zu wandern – vom Spätsommer in den knallfarbenen Herbst hinein. Weitere fünf Tage lang.

Damals habe ich mir nicht vorstellen können - die touristische Erschließungsdynamik in den Alpen vor Augen -, dass sich hier oben auch vierzig Jahre später nichts Gravierendes verändert hat. Die Pfade sind die gleichen geblieben, die Hütten sind die gleichen, die unberührte Natur ist die gleiche. Für Norwegen und Finnland gilt dasselbe. Tatsächlich ist es dort oben genau so, wie man sich als Mitteleuropäer für gewöhnlich nur Kanada oder Alaska vorstellen kann.

Doch wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Würde man auf einen Blick, aus der Luft, alle skandinavischen Feuerstellen sehen können, die von Wanderern, Fischern und Jägern vor zehn Jahren verursacht wurden, der Schreck wäre groß. Sie sind immer noch gut zu erkennen, weil Wälder, Berge und Seen als untereinander verbundene Biotope im Norden wesentlich empfindlicher sind als irgendeine klimatisch verwöhnte, »fette« Landschaft in südlicheren Breitengraden. Kurz gesagt: Wo man einmal kräftig hintritt, wächst so schnell kein Gras mehr. Siehe daher den Kurzfilm „Feuerstelle naturschonend“. Ich erkläre darin, welche Technik man anwenden sollte, damit die Vegetation durch eine Feuerstelle keinen Schaden nimmt und schnell wieder anwachsen kann.

Positiv zu erwähnen ist: Alle Hütten im Padjelanta- und Muddus-Nationalpark, die früher vom staatlich-schwedischen Naturvårdsverket (SNV) verwaltet wurden, stehen heute unter dem samisch geführten Management von Badjelánnda Laponia Tourism (bezogen auf das UNESCO Weltkulturerbe Laponia, zu dem auch die benachbarten Nationalparks Sarek, Stora Sjöfallet und das Naturreservat Sjaunia gehören). Das heißt, der schwedische Staat hat einen kleinen Teil seines Besitzanspruches über Lappland an die Sami abgetreten; an die indigene Ursprungsbevölkerung in Skandinavien (doch das ist nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein — siehe dazu die Rubrik „Lesestoff“).

Andererseits wird das Wandergeschehen in Schweden seit jeher auch von der „Svenska Turistföreningen“ (STF) dominiert. In Norwegen und Finnland sind die Strukturen anders gelagert (siehe: „Zehn Schritte bis zum Aufbruch“). Turist steht hier übrigens, wie auch in Norwegen, als Synonym für „Wanderer“. Tatsächlich hat der STF als Verein über viele Jahrzehnte hinweg fast alle Hütten längs der Wildnispfade aufgebaut, sozialisiert und unterhält sie mit großem Kostenaufwand.

Das nötige Geld, um das aufwändige Hüttensystem zu finanzieren, erwirtschaftet der STF – neben Mitgliedsbeiträgen – überwiegend mit (s)einer „Cash Cow“ namens Kungsleden. Doch der knapp 500 Kilometer lange „Königspfad“ ist darüber zu einer Art Outdoor-Marke geworden, die allmählich zu Tode geliebt wird. Speziell auf der Strecke zwischen Abisko und Kebnekaise. Eine Möglichkeit, das Dilemma zu verkleinern, ist: Mitglied werden, den Verein konstruktiv-kritisch begleiten und andere STF-Hütten auf anderen Wegen nutzen.

Nicht zu vergessen hat es in den vergangenen vierzig Jahren im Bereich der Ausrüstung unglaubliche Verbesserungen gegeben. Viele Ausrüstungsgegenstände sind enorm leicht geworden: Beispielsweise wiegt mein Zwei-Mann-Zelt heute 1200 Gramm, mein Ein-Mann-Zelt etwa 800, mein Tarp und mein Daunenschlafsack kommen auf je knappe 500 Gramm und selbst meinen Spirituskocher gibt es in der großen und der kleineren, um 800 Gramm leichteren Ausführung.

War ich früher mit drei Kilo Fotoausrüstung unterwegs, ist es mit den heutigen digitalen Möglichkeiten kaum noch der Rede wert – solange man die Gewichtsersparnis nicht gleich wieder egalisiert: Durch Notsender und Satellitentelefone (auf viel begangenen Pfaden wirklich unsinnig), durch Laptops, Tabletts, Powerbanks, Ladekabel oder Solarpanels. Bis hin zu einer – alles schon erlebt – mobilen Wasserentkeimungsanlage im Trinkwasser-Paradies(!) Lappland. Soll heißen: Ein überwiegend ausgeschaltetes Smartphone für den Notfall und eine leistungsfähige Kompaktkamera genügen. Ansonsten gefällt mir immer noch am besten, was der Hüttenwirt einer sehr abgelegenen Hütte mal an die Wand gepinnt hatte: „Sorry, we don’t have WIFI. You have to talk to each other.“

Und damit sind wir letzten Endes bei einer Zeiterscheinung, die sich im Lauf der letzten zehn Jahre mehr und mehr verbreitet hat: Viele Mitteleuropäer und auch die meisten Großstadt-Skandinavier bringen einen durchgetakteten und leistungsorientierten Lebensstil mit, den sie bei ihren Wanderungen geradewegs fortführen. Oft auch, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Da bleibt dann kaum noch Zeit für spontane Extratouren auf einen Aussichtsberg oder das Umherschweifen um Pilze, Blaubeeren oder die kostbaren Hjortronbeeren zu sammeln (norwegisch: Molte, finnisch: Lakka) – und dabei dann, völlig unerwartet, einen Elch zu sehen, eine Schnee-Eule oder eine große und ruhig dahin ziehende Rentierherde.

Eine langjährige finnische Freundin würde an dieser Stelle sagen: „Leute, wir sind hier jenseits der Eilegrenze.“ Sie meint damit: Skandinaviens Natur braucht Zeit, braucht Mut und mitfühlende Menschen.

Klaus Betz