Erstveröffentlichung unter dem Titel „Sieben Tage Einsamkeit“ in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, v. 24.08.2014


Was keinen Rang und Namen hat

Auf einsamen Pfaden in Nordschweden

Von Klaus Betz

Der Begriff ist eher unter Eisenbahnern verbreitet. Auf Schwedisch geschrieben bedeutet das neulateinische Semafor, dass ich hier, laut Karte und mitten in der nordschwedischen Wildnis, auf einen „Zeichenträger“ zuwandere. Vorausgesetzt, ich verliere nicht im letzten Moment noch den Pfad. Seit zwei Stunden verläuft er als kaum sichtbare Waldläufer-Spur. Die roten Wegmarkierungen fehlen immer häufiger oder hängen als vermodernde Rindenfetzen an umgestürzten Birken. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich erneut auf einem sehr einsamen Pfad unterwegs bin. Der „Mavasleden“ ist einer jener wenig begangenen Fjällwanderwege, die – im Unterschied zum populären Kungsleden – keinen Rang und keinen großen Namen haben. Er beginnt an der Reichsstraße Nr. 95, nahe der Grenze zu Norwegen, überquert den Polarkreis, führt zum Mavasjaure-See und von dort aus weiter nach Norden. Mitten hinein in die Quellgebiete der großen nordschwedischen Gebirgsflüsse.
Der besagte Semafor jedenfalls steht am Südufer des Mavasjaure und ist ein knapp vier Meter hoher Mast, mit einem um 180 Grad schwenkbaren weißen Holzschild am oberen Ende. Dort angekommen, drehe ich das Signal so, dass es am gegenüberliegenden Nordufer gesehen werden kann. Auf der anderen Seite wohnen Pernilla und Tomas Evenström. Das schwedisch-samische Paar betreibt Mavas bereits in der dritten Generation als „Jakt och Fiske“-Camp. Meist von Anfang Juli bis Anfang September. Die kleine Stugby in der Wildnis, eine Ansammlung von sieben, acht Hütten, erreicht man nach knapp drei Tagen Wanderung.
Kaum dass ich das Signal auf „Abholen“ geschwenkt habe, höre ich, wie vom jenseitigen Ufer ein Motorboot losfährt. Zehn Minuten später ist Tomas zur Stelle, nimmt mich auf und nach weiteren zehn Minuten sind wir drüben. Und damit bin ich plötzlich auf der Sonnenseite des Lebens angekommen. Hier gibt es fangfrische Gebirgsforellen (Fjällöring) und für den Alleinwanderer auch eine kleine Übernachtungshütte. Sie heißt „Åttan“ (åtta bedeutet acht), weil sie die Form einer achteckigen Kota hat. Traumlage am See inbegriffen.
Die Nacht zuvor musste ich noch, am weiter südlich gelegenen Ikesjaure-See im Zelt übernachten, im Kahlfjäll (schwedisch: Kalfjäll). So wird der Bereich oberhalb der bei 700 Meter verlaufenden Baumgrenze genannt. Entsprechend ist man allen Unbilden ausgesetzt. Und als hätte es jemand bestellt, fällt die Nacht auf dem Kahlfjäll prompt stürmisch aus, kalt und regnerisch. Die etwas unangenehmen Wetterverhältnisse werden damit zugleich zu einem Härtetest für mein neues, 1050 Gramm leichtes Einmann-Zelt. Es hält. Es leistet, was alle Ausrüstungsgegenstände im hohen Norden können müssen: Dauerbelastungen aushalten – ohne zu brechen, zu reißen, zu knicken, zu klemmen, auszufransen oder sonst wie zu versagen. Jenseits des Polarkreises liegt nun mal kein Outdoor-Disneyland.
In Mavas ist das alles schon wieder vergessen. Die Sonne scheint, Ende August gibt es kaum noch Mücken, dafür Blaubeeren in Hülle und Fülle und die herbstlich gefärbten Wälder wechseln ins Knallgelbe. Im Übrigen stelle ich fest: Dies ist mein zehnter Wandertag. Begonnen habe ich südlich des Polarkreises im Vindelälv-Tal bei Ammarnäs und während der gesamten Zeit bin ich gerade einmal zwei schwedischen Anglern begegnet und einem deutschen Pärchen aus Köln.
Zeit für eine zweitägige Ruhepause; mit verschiedenen kleinen Kochorgien. Die Wundertüte in meinem Rucksack lässt mir die Wahl zwischen roten Berglinsen und Basmati-Reis oder Sojagulasch mit einer Pfeffersoße und Polenta. Zum Nachtisch steht eine Schokocreme (auf Trockenmilchbasis) zur Auswahl oder eine Packung noch zu wässerndes Trockenobst. So genanntes „Trekkingfood“ verwende ich nur sehr selten.
Tomas Evenström muss meine Vorliebe für schmackhaftes Essen bemerkt haben (vielleicht auch gerochen). Zum Abschied schenkt er mir am anderen Morgen die klassische Wegzehrung der Samen: Eine mitsamt einer ordentlichen Portion Fleisch und Fett zuerst gedörrte, dann geräucherte Rentierrippe. Ein konzentriertes Nahrungskraftpaket sozusagen. Als hätte er geahnt, was mir an diesem Tag noch bevorsteht.
Dabei beginnt das Problem bei schönstem Wetter ganz harmlos. Während ich recht nahe herankommende Rentiere fotografiere, Engelwurz, Flechten, Weidenröschen, die letzten Wollgras-Blüten und zwischendurch auch Schneehühner vor mir wegflattern, verliere ich ganz plötzlich den Pfad. Genauer: Kurz hinter dem kleinen Bjørresee verliert sich der Pfad. Die in der Karte eingezeichnete Brücke existiert nicht länger und eine Wegmarkierung gibt es auch nicht mehr. Das sumpfige Gelände ist dicht mit Silberweiden bewachsen. Nichts zu sehen. Kein Stiefelabdruck, kein geknicktes Gras, keine abgerissenen Zweige, noch nicht mal die Andeutung einer Spur.
Der kleine Bach, den ich überqueren muss, weil nirgendwo die besagte Brücke zu finden ist, führt nur wenig Wasser. Ist also kein Drama. Aber wie nun auf der anderen Seite weiter? Laut Karte müsste jenseits des Baches der Pfad in nördlicher Richtung führen. Doch weil alles mit jungen Birken buschartig zugewachsen und im Umkreis von 300 Metern nichts zu finden ist, muss ich mir eingestehen: Zwei Stunden nördlich von Mavas habe ich meinen Weg verloren. Es dauert eine Weile, bis ich diese Tatsache akzeptiere, weil ich weiß, was ab jetzt folgt: Ich werde meinen anvisierten Lagerplatz heute nicht mehr erreichen. Ich werde ab jetzt – im weglosen Gelände – tausend kleine Umwege gehen müssen, nur noch einen Kilometer pro Stunde schaffen (auf markierten Pfaden sind es etwa drei) und darauf achten müssen, gleichzeitig die Richtung beizubehalten. Außerdem muss ich unbedingt aus diesem unübersichtlich dichten, urwaldähnlichen Birkenunterholz heraus und – immer wieder die Richtung kontrollierend – so bald wie möglich zum baumlosen Kahlfjäll hoch. Dort hat man bei schönem Wetter immer die beste Übersicht und gleichzeitig ein leicht zu begehendes Gelände vor sich. Viertens schließlich, weil ich mich von nun an abseits eines Wanderpfades bewege, sollte ich meine am Rucksack befestigte Bärenglocke von ihrem kleine Magneten befreien und dadurch auf „klingeln lassen“ umstellen. Nicht wegen der Bären (die weichen in der Regel aus), sondern wegen der Elchkühe, die um diese Zeit ein knapp halbjähriges Kalb bei sich haben. Alle sollen hören, dass ich komme!
Und zu guter Letzt das Wichtigste überhaupt: In diesem schwierigen Gelände - die Steine sind häufig von Gras oder auch Wurzeln bewachsenen -, muss jeder Schritt so sorgsam gesetzt werden, dass man weder stolpert, noch strauchelt, noch fällt. Ergebnis: Nach zwei Stunden stehe ich schweißnass gebadet auf einem von der Sonne beschienenen Hügel im Kahlfjäll, ziehe mich splitternackt aus, trockne mich vollständig ab und kleide mich mit der trockenen (stets wasserdicht verpackten) Ersatzwäsche neu ein.
In diesem Moment erst fällt mir auf, dass ich seit dem reichlichen Müsli-Frühstück noch nichts gegessen und nach dieser Kraftanstrengung einen Riesenhunger habe. Was jetzt dran glauben muss ist klar: Die geräucherte Rentierrippe. Während ich mir Streifen für Streifen des Rentierfleisches abschneide und einverleibe, sehe ich in zweihundert Meter Entfernung einen roten Punkt und zum ersten Mal wieder ein Steinmännchen. Tatsächlich, es ist die Markierung. Ich muss bei meiner Wegewahl die ganze Zeit in etwa richtig gelegen haben, nur eben um gut zwei- bis vierhundert Meter parallel nach Westen versetzt.
Ein Stunde später schlage ich mein Lager am Südufer eines 638 m hoch gelegen Sees auf, der auf den fast unaussprechlich-samischen Namen Ahkánsitkkájávratj lautet. Wie auch immer. An dieser Stelle steht das Zelt sowohl in der Abend- wie auch in der Morgensonne. Ich habe Birken um mich herum (Feuerholz), habe Wasser und einen grandiosen Blick auf den norwegischen Sulitjelma-Gletscher im Nordwesten.
Alles was nach dem heutigen Tag zu notieren bleibt, ist dies: Alleinwanderungen in der nordischen Wildnis sind anspruchsvolle Achtsamkeitsübungen, die darauf hinauslaufen mit und in der Natur zu leben. Ohne Angst, ohne Eile, ohne etwas beweisen zu müssen und – ohne Unfall.

Morgen entscheide ich, ob ich über die Grenze nach Norwegen wandere oder weiter nach Norden, zum Padjelanta-Nationalpark. Für heute gehört meine Aufmerksamkeit nur noch der - im warmen Schlafsack liegend, Stirnlampe an - täglichen Bettlektüre. Es ist ein leichtes Reclam-Heft mit einem schwergewichtigen Inhalt. Ich lese derzeit abends immer die „Vorlesungen zur Existenzphilosophie“ von Odo Marquard. Titel des Büchleins: Der Einzelne.