Erstveröffentlichung: Frankfurter Rundschau (4.3.1989)

 

 

Manchmal hört man von weitem ein paar Raben

 

Von Klaus Betz

 
 
Die Stelle liegt genau bei 69 Grad nördlicher Breite und 26 Grad östlicher Länge. Um noch genauer zu sein; sie liegt auf einer kleinen Anhöhe zwischen zwei zugefrorenen Seen. Rings um mich herum ist das Land im tiefsten Winter erstarrt. Es ist Frühling in Finnisch-Lappland. Der nächste Nachbar ist zwanzig Kilometer weit weg, und sein Hund heißt „Tsierkki“. Das bedeutet: „Nachtauge“.
Die Schneehühner wecken mich immer als erste. „Gok-gok-gok“, rufen sie sich über die Seen hinweg zu - da drüben lebt seit ein paar Tagen ein Mensch. Manchmal hört man von weitem ein paar Raben, aber meistens ist es so still, dass man viel eher das Eis knacken hört, das, wenn es unter den ersten Sonnenstrahlen wieder erwärmt wird, seine Spannung verändert Auch eine Maus hat sich sehr schnell eingestellt, und als wolle sie mich an eine uralte Abmachung erinnern, raschelt sie jeden Morgen hörbar im Holzstoß herum. Für sie habe ich außerhalb der Zeltkota extra eine Futterstelle im Schnee eingerichtet, die sie aus ihrem Tunnelsystem unter dem Schnee heraus „anzapft“. So bekommt sie, was ihr zusteht, und lässt mir dafür meinen Teil des Essens unberührt.
Temperaturen spielen keine Rolle. Ich lebe am Boden, schlafe auf Rentierfellen und liege in Daunen. Einzig das Feuermachen muss so automatisch gehen, wie zu Hause Licht einschalten. Deshalb richte ich mir abends alles so her, dass ich es morgens vom Schlafsack aus - schnell in Gang bringe; was wichtig ist: Wärme. O ja, Temperaturen spielen sehr wohl eine Rolle, aber nur in der Form, dass ich zwischen behaglich und unbehaglich unterscheide. Mehr nicht. Behaglich ist, wenn man wenigstens für die nächsten 24 Stunden sicher vorgesorgt hat; unbehaglich wird's, wenn man vergisst, was man nicht vergessen darf: dass man einschneien kann. Denn wenn man dann erst wieder einen Holzvorrat suchen muss oder seine Skier nicht sofort wieder findet, dann hat man gegen den obersten Grundsatz der Natur verstoßen - den der angewandten Ökonomie, und das meint: keine Energie verschwenden.
Jetzt erst stehe ich auf, nehme zwei Töpfe mit, um sie mit Schnee zu füllen und um anzuschauen, was andernorts als "Wetterbericht für Nordfinnland" gemeldet wird. Wieder ist es ein strahlend blauer Tag, die Luft ist klar und trocken. Längst ist auch das Licht zurückgekehrt, und die Tage sind jetzt schon so lang wie bei uns Ende Mai.
Wie ich diese weiße Landschaft beschreiben soll, weiß ich nicht. Am treffendsten ist wohl immer noch: ein beharrliches Schweigen. Die sanft ansteigenden, runden Hügel und Berge liegen einfach wie „hingegossen und vergessen“ da, mit den Kiefern drunten im Tal, mit den Birken hier oben, rundherum um die Seen. Von drinnen höre ich das Holz knistern und prasseln. Aus der Zeltöffnung oben quillt Rauch heraus. Also krieche ich zurück, stelle die Töpfe ins Feuer und warte - eine knappe Viertelstunde. So lange etwa braucht der Schnee, bis er geschmolzen ist und dann dauert‘s noch eine Weile, bis das Kaffeewasser kocht.
In einer Kota verrichtet man alles Tun leicht schräg sitzend oder halb liegend, weil sich der Rauch - wie mit dem Lineal gezogen - ab einer Höhe von etwa 90 Zentimetern - bis unter die Dachöffnung hinauf staut. Wer's nicht beachtet, hat ständig tränende Augen. Etwas beachten, ist ein anderer Grundsatz in der Wildnis.
Heute wässere 'ich Trockenpflaumen, lasse sie aufquellen im heißen Wasser und backe ein paar kleine Pfannkuchen dazu. Nachher werde ich in Richtung des südlich liegenden Berges losziehen - er hat keinen Namen, ist aber 479 Meter hoch - und irgendwie sehen, wie weit ich komme. Wenn ich wieder bis zu den Hüften einsinke, werde ich auch morgen noch einige Stunden aufwenden müssen, damit die Skispur endlich befahren werden kann. Was ich hier draußen mache? Einen Morgen genießen, wie all die Tage zuvor auch.