Erstveröffentlichung: Frankfurter Rundschau (15. Okt. 1988)

 

Stille Tage in Nammatan

 

Von Klaus Betz

 
 
Der Ofen bullert, es riecht nach Holz und Lederfett. Draußen ist es hell geworden, und die Stille, mit der sich das vollzogen hat, war, wie jeden Tag, eine Stille ohne bitteren Beigeschmack. Vorhin fegten zwar noch Graupelschauer über den See, aber das war nur der frostige Abschied der vergangenen Nacht. Jetzt scheint bereits die Sonne durch die Wolken, streift die Waldwipfel, und in einer Stunde ist's dann auch hier unten, am Ufer, warm und angenehm.
Nammatan ist eigentlich kein Ort, es ist nur ein schöner Name für den Herbst. Denn Nammatan ist die beste Zeit, um Zeit zu finden - hier oben, irgendwo in einer Hütte in den Wäldern Nordschwedens; um sich zwischen Erlkönig-Stimmung und kräftiger Morgensonne einzupendeln, um sich in Nachtfrost und glask1arer Mittagsluft wohl zu fühlen. Nammatan ist also ein Zustand. Und dies ist das Protokoll davon.
Auf dem Herweg habe ich Pelle getroffen. Er hat mir frische Forellen geschenkt. Wir haben sie gemeinsam gesalzen und dadurch für die nächsten Tage haltbar gemacht. Sonst sei niemand unterwegs, meinte er, und ich habe ihm die Fische mit Butter und Schoko1ade vergolten. Daraufhin haben sich unsere Wege wieder getrennt; denn er, wie ich, geht allein.
Die Birkenwälder strotzen jetzt vor Farbe, in Knallgelb und Rotorange, und an den Bachrändern ummantelt sich das Gras mit Eis. Die Moore glänzen rostbraun im Gegenlicht. Entweder sind sie mit Rauhreif überzogen, morgens, oder sie sind voll gesogen mit Millionen Tropfen Tau, am Nachmittag.
Die meisten Vögel sind schon nach dem Süden abgeflogen, bisweilen landet noch ein Entenpaar auf dem See. Du hörst ein "Zsssss", wenn sie auf dem glatten Wasserspiegel landen und ein „Hui-Hui-Hui“, wenn sie wieder starten. Das ist alles. Kein Geschnatter, kein Gerappel, kein unnützes Wortgefecht. Stille eben.
Jetzt, da es keine Mücken mehr gibt, traue ich mich auch, an sumpfigen Ufern zu verweilen und zuzuwarten. Irgendwann kommt ein Elch, irgendwann springt eine Forelle, irgendwann knackt es im Uferwald. Ja, jetzt bin ich angekommen. Nachher werde ich die Bank vor der Hütte in den Windschatten stellen und an meinem Stock schnitzen. Am oberen Ende wird's wieder ein Kopf, ein Gesicht, der Rest hängt von den Astknorpeln und von der Maserung ab. Astknorpel können sehr gut Augen sein, die Faserung ergibt Flügel, vielleicht auch aus Vogelfedern, und ein Knick im Holz reicht für ein Ren-Geweih. Ja, ich werde bleiben.
Mein Holzvorrat ist gewaltig. Irgendeine freundliche Seele hat mir so viel Gespaltenes hinterlassen, dass ich unverdientermaßen weder Sorgen damit habe noch Vorkehrungen treffen muss. Dafür aber habe ich ein ungutes Gefühl wegen meiner Vorräte im Schuppen. Da huscht immer etwas Dunkles, Schwarzes, so hundert, hundertfünfzig Meter rechts von mir. Ich vermute, es ist ein Vielfraß, aber er, „es“ ist so wahnsinnig schnell. Warten wir ab, bis wir uns in die Augen sehen.
Vielleicht sollte ich auch nur etwas mehr Geräusche machen, denn seit der Sommer zu Ende ist, so scheint es, haben die Tiere die Bannmeile aufgehoben. Die Hütte ist nicht mehr tabu. Erst gestern habe ich deshalb versehentlich einen Auerhahn aus seiner Deckung aufgescheucht, wir waren beide völlig überrascht. Und hätte die schweigsame Eule reden können - schwupp, dreht sich der Kopf -, unter deren Ansitz am hohen Ast ich durchgewandert bin - schwupp, dreht sich der Kopf -, sie hätte es sicherlich bestätigt. So aber ist sie kommentarlos abgestrichen und verschwunden. Ja, hier kann ich sein.
Seit zwei Tagen weiß ich, dass ich einen Nachbarn habe. Jean P. ist ein französischer Verhaltensforscher, der an einem Projekt über Elche arbeitet, was denn sonst um diese Jahreszeit und hier oben. Er hat sich für September und Oktober, nur sieben Kilometer weiter, in der Mansonschen Hütte einquartiert. Uns verbindet ein schmaler, sich durch den Wald schlängelnder Pfad. Wir wissen voneinander, wir haben uns gesprochen, aber das genügt auch schon; soll heißen: Wir lassen uns in Ruhe.
Blaubeeren finde ich nur noch ab und zu, von Pilzen habe ich nach wie vor zu wenig Ahnung - und überhaupt, wenn ich allein bin, lasse ich ohnehin die Finger davon. Also führen mich meine Tageswanderungen mal hierhin, mal dorthin, und nichts folgt einem Ziel - außer diesem: bei meinen Streifzügen durch die Wälder zur Hütte zurückzufinden. Sonst aber habe ich hier nicht etwa etwas zu suchen, hier kann ich nur etwas finden.
Die Abendsonne schickt jetzt Tag für Tag ein anderes, ein immer weicheres Licht. Zuerst war es noch gelb, so ein Pastellgelb. Dann wurde es langsam dunstigblau, und jetzt hat es einen alles vereinnahmenden violettroten Stich. Ganz behutsam geht das vor sich, als begrüße jemand nur hauchend die kommende Nacht, als stünden wir vor der Mauer des Schweigens.
Wenn es dann Nacht geworden ist, wenn das Nordlicht wabert. wenn von Horizont bis Horizont ein lang gedehntes, äußerst leises Zischen hörbar ist, ein „Tsch-sss . . . ss ... s“, dann bin ich der einzige Zuschauer bei diesem grandiosen Feuerwerk. Meist tanzt das Nordlicht nur in seinem Standardgrün und bildet einen Bogen, einen Kranz aus Schleiern und weiß oft nicht mehr, was es will. Wenn es dann aber wie aus dem Nichts zur Supernova explodiert, das seltene Rot verschleudert und mit bläulichem Schimmern dazwischenfunkt, wenn es nach links und rechts wegspritzt, angreift und nachgibt, aufflackert und stirbt, wenn es seine Macht und seine Farben verschüttet, dann ist genau dies der Ort, wo nichts geschieht und niemand etwas wissen will. Wie ich schon sagte: Nammatan ist ein Zustand. Und dies ist das Protokoll davon.