Erstveröffentlichung: Merian Schweden 1984

 

Am Nabel des Wohlwollens

 

Vierundzwanzig Kilometer können hier noch eine Ewigkeit sein - in der Einsamkeit des Nordschwedischen Massivs, weit nördlich des Polarkreises. Unser Autor beschreibt eine abenteuerliche Skiwanderung von Hütte zu Hütte bei heftigem Schneesturm, mit zwanzig Kilo Gepäck auf dem Buckel. Der Lohn der Strapazen ist vollständiges Glück.

 

Von Klaus Betz

 

Was soll ich dir erzählen von Lapplands Winter? Vom weißen Schweigen, von dieser Stille, dieser unglaublichen winterlichen Stille, von Abenteuern, die du nicht fest halten kannst, weil du sie im Kopf erlebst; und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.

Ich will dir sagen, was der Nabel des Wohlwollens ist, will dir die Geschichte eines Tages erzählen, die eigentlich alles erzählt, die mit dem Abend anfängt, auf der Alesjaure-Hütte nahe Abisko im Nordschwedischen Massiv, das der Winter noch am 1. Mai unter sich begraben hat, der tiefe Winter des 68. Breitengrades, 175 Kilometer nördlich des Polarkreises.

Hier oben, 900 Meter über dem Meeresspiegel, sind die Bäche und Seen noch eiserstarrt. In den bewaldeten Tälern weiter unten, wo die Erzbahngleise von Kiruna nach Narvik verlaufen, lässt das Golfstromklima aus dem benachbarten Norwegen den Schnee schon tauen. Aber das liegt zwei Tagesmärsche zurück; hier liegen die runden Bergrücken Lapplands noch gut anderthalb Monate unter dem Schneepanzer. Erst nach Mittsommer kommt die Renweide wieder zum Vorschein, Flechten und Moos, das Wollgras der Hochmoore. Erst dann siehst du Lemminge, stechen dich Mücken, gibt es wieder Beeren. Jetzt kannst du noch stundenlang auf deinen Skier gehen, bist allein. Das einzige Geräusch bist du selbst, wenn du dich räusperst, um mal wieder etwas zu hören. Trotzdem bist du nie einsam, du wirst aufmerksam beobachtet: von Schneehühnern und Hasen, vom Fuchs, vom Vielfraß und von anderen Unsichtbaren. Sie sind hinter Hügeln, Steinen und Felsblöcken, in ihrem Zuhause. Ich kreuze nur ihre Fährten, aber sie sehen mich.

Wenn du dich bewegst, kommst du ins Schwitzen, wenn du stehen bleibst, wird dir kalt. Die Welt um dich herum ist glitzernd und gleißend, du musst eine Gletscherbrille tragen, wenn du nicht schneeblind werden willst. Du staunst über die Kraft der Sonne an diesen späten Wintertagen, sie scheint wie bei uns im Sommer, aber in der Nacht frieren die Tautropfen zu Eis.

So sitze ich also den zweiten Abend auf Alesjaure und warte darauf, dass jemand kommt. Außer dem Hüttenwirt ist niemand hier. Und ich würde morgen liebend gern in Gesellschaft über den 1150 Meter hohen Tjäktja-Paß gehen. Bis zur Hütte im nächsten Hochtal sind es 24 Kilometer, hier in Lappland können 24 Kilometer die Ewigkeit sein. Wenn nun ein Schneesturm kommt? Zwar ist auf dem Tjäktja-Pass ein Windschutz verankert, aber allein bis dort sind es 14 Kilometer, und drei Stunden brauchst du für den Aufstieg - wenn alles gut geht.

An diesem Morgen ist das Wetter günstig. Ich habe Gegenwind aus Süden, und der Himmel ist zur Hälfte bewölkt, doch sonnig genug. Also gehe ich, und ich gehe allein, denn niemand ist gestern gekommen. Der Hüttenwirt versichert, dass er am Abend über sein Funktelefon bei der Gebirgspolizei nachfragen wird, ob ich bei den Sälka-Hütten im Nachbartal angekommen bin. Ich erkäre ihm, dass ich bei schlechtem Wetter im Windschutz bleiben und übernachten werde. Deshalb nehme ich noch ein Bündel Birkenholz und viel von der leicht brennbaren Birkenrinde in meinem Rucksack mit. Er wiegt damit mehr als zwanzig Kilo.

Vor mir liegt der obere Talkessel des Alesjaurejokki. Dieser kleine Fluss ist im Sommer ein reißendes Wildwasser. Jetzt aber ist ihm alle Gewalt genommen, er fließt da unter mir im Dunkeln und murmelt sicher unzufrieden ob seiner Machtlosigkeit. Der Alesjaurejokki ist die denkbar beste Skispur durch diese weiße Welt, und es ist eigenartig einfach, immer nur nach Süden zu gehen. Einfach der Sonne nach. Aber wenn sie nicht scheint, möchte ich meine Wegmarkierung nicht missen.

Die Sicht ist gut, das Wetter unverändert, und der Tjäktja-Pass liegt schon vor mir. Aber mein mitteleuropäisches Augenmaß hat sich schon im Vorjahr auf Lapplands Dimensionen einstellen müssen: Was greifbar nahe erscheint, ist meist zehn, zwölf Kilometer weit weg, was da in der Ferne liegt, das braucht zwei Tage. Ich stehe am Fuße eines flachen, aber sich schier endlos hinziehenden Bergrückens, an dessen Ende mein erstes Etappenziel liegt. Wie lange ich brauchen werde, weiß ich noch nicht. Die Schweden meinen, der Tjäktja-Paß sei ganska mycket job, ein ziemliches Stück Arbeit.

Der Wind hat zugenommen, er bläst stärker. Es ist unangenehm, fortdauernd gegen ihn anzugehen, noch dazu bergauf. Die flacheren Hänge kann ich direkt und gerade ansteigen, die steileren Passagen aber muss ich mit meinen Skiern traversieren. Was bin ich froh, dass es hier keine Lawinen gibt! Fast alle Hänge haben weniger a1s 25 Grad Neigung. Aber je höher ich komme, desto stärker wird der Wind, um so mehr muss ich kämpfen, muss ich schwitzen, um so weniger darf ich stehen bleiben, Luft holen, schnaufen, durchatmen. Und es wird kalt und kälter. Unter meiner Daunenkleidung bin ich zwar warm, aber auch nass. Hier, im baumlosen Gebirge, heißt stehen bleiben sehr schnell auskühlen, Erkältung und noch mehr riskieren.

Treibschnee setzt ein. Ich habe ihn genau von vorn. Treibschnee ist wie Treibsand. Flach über den Boden pfeifend und auch so gemein nadelstichig. Nach einer Stunde Aufstieg komme ich in einen riesigen Hohlweg. Wie ein liegendes Kanonenrohr schiebt er sich zwischen die Felsen. Ja, sie rücken zu mir auf, die Berge, pressen den Wind zusammen, zwingen ihn durch meinen Hohlweg, genau gegen mich. Der große Rucksack ist ein gewaltiger Windfang, der Kraft kostet, Schweiß treibt und noch mehr Nässe produziert. Hemd, Unterhemd, Unterhose - alles nass.

Ich greife zum Fernglas. Tatsächlich, am Ende des „Kanonenrohres“ kann ich den Windschutz erkennen. Wirklich? In diesen Dingen musst du hier vorsichtig sein. Schon mancher ist vor lauter Freude in die falsche Richtung gerannt, bloß weil er glaubte, kurz vor einem Windschutz zu stehen. Am Ende war es dann aber nur ein großer Felsblock. Es ist allein die Natur, die Regie führt und ihr Schauspiel inszeniert, und du bist mittendrin, Teil ihres Plans, Spielball ihrer Laune, du kannst alles haben, ein Stück Himmel umsonst, ein Stück Hölle umsonst, frei nach ihrem Ermessen, denn der Maßstab der Dinge bist ganz gewiss nicht du.

Am Passscheitel stürmt es so stark, dass ich Schritt für Schritt um die letzten Meter kämpfen muss. Im Windschutz, einer rundum verschlossenen, winzig kleinen Hütte mit Holzpritsche und Ofen, ist es eiskalt. Kristalle glitzern an der Wand. So rasch wie möglich wechsele ich mein nass geschwitztes Zeug. Ich trockne mich ab und ziehe auch die zweite Daunenjacke an, dann erst mach' ich Feuer. Es dauert seine Zeit, dann aber wird es doch warm, und nach einer halben Stunde ist auch der Schnee geschmolzen. Ich hab' Wasser! Und ich trinke, fast zwei Liter. Ich habe viereinhalb Stunden gebraucht. Für 14 Kilometer.

Nach einer Stunde Rast bin ich gestärkt und aufgewärmt. Da es von jetzt an abwärts geht und mein Körper nicht mehr so angestrengt arbeiten wird, muss ich mich besonders gegen den auskühlenden Wind schützen. Auf dem Pass stürmt es noch immer. Es ist verdammt kalt. Und es ist schon vier Uhr nachmittags. Ich muss noch zehn Kilometer gehen. Über die Wollhosen ziehe ich Nylon-Hosenbeine, über das Gesicht die weiße, handgestrickte Maske, über die Augen die Skibrille.

Abwärts geht es in weiten, rasanten Schwüngen, denn das Gelände fällt auf dieser Seite steil ab. Gott sei Dank. Was nämlich auf der anderen Seite eine stundenlange Arbeit war, ist hier nur eine Sache von zehn Minuten. Weiter nichts, wenn du Ski fahren kannst; und ich will jetzt ins Tal, verflucht, denn dort ist es endlich, endlich windstill oder eben nur säuselnd. Aber was für ein Tal! Was für ein Tal! Voller Hügel und Senken, mindestens vier Kilometer breit. Es ist unmöglich, die Hütten zu sehen. Nicht, bevor du davor stehst. Ich zähle die Seitentäler auf der Karte. Aha, beim dritten Tal von links, da müssen die Sälka- Hütten sein. Aber es ist schon fünf vorbei, bald halb sechs. Ich bin spät, sehr spät.

Aber dann riechst du es plötzlich doch, du fängst an zu fliegen, du hebst ab, du schwebst los, alles ist leicht, mühelos. Spaß, Freude, Jubel, Erleichterung. Du atmest auf. Wenn es dir möglich ist, einen Geruch aufzuspüren, von dem dich noch Kilometer trennen, glücklich zu sein, nur weil du etwas riechen kannst - weißt du, was das bedeutet? Alles! Du hast den Rauch der Hüttenfeuer in der Nase, diesen unverwechselbaren, würzigen Duft der verbrennenden Birke. Du weißt, da vorne irgendwo, da heizen sie, da gibt es warme Stuben, einen Ofen, etwas zu essen, Kaffee, die Zigarette des Tages, es gibt dort Menschen, die weiß Gott woher kommen und weiß Gott wohin gehen. Weißt du, was das ist? Genau, dann näherst du dich dem Nabel des Wohlwollens! Schönen guten Abend, sagst du, von Herzen, schönen guten Abend! Ach, und wenn dann die Polizei rüberfunkt: der Deutsche bin ich, und ich bin hier ,wie ihr seht. Für dich selber denkst du dann: Ja, du bist hier. Einen Tag oder vierundzwanzig Stunden älter und wieder mal vom Nabel des Wohlwollens aufgenommen.